Haben Sie die Maxime auch schon gehört, jede und jeder sei talentiert, wir alle hätten Talent? Was bedeutet das heutzutage? Brauchen wir in unseren Unternehmen und Organisationen Talente? Und, wenn ja, was impliziert dies für deren Rekrutierung und Entwicklung?
Aus meiner Sicht ist jeder Mensch einzigartig, und diese Einzigartigkeit macht auch die Stärke und das Potenzial jedes Einzelnen aus. Wie also packt man das Thema Talententwicklung heute an? Und worauf setzt man das Hauptaugenmerk?
Talente brauchen wir tatsächlich, Leute, die an ihre Stärken und ihr Potenzial glauben und die sich für ein gemeinsames Ziel, eine geteilte Vision einsetzen. Und zwar auf allen Ebenen des Unternehmens oder der Organisation. «Unwichtige» Jobs gibt es nicht. Jede Aufgabe kann Talente hervorbringen.
Aber was bedeutet denn «Talent» eigentlich? Das Wort kommt aus dem Lateinischen «talentum» für «Gewicht, Geld» und vermittelt die Idee eines Werts. Und tatsächlich, jede/r von uns hat einen in sich selbst liegenden Wert, der in den Vordergrund zu rücken ist; von da kommt auch die Vorstellung, eine Person «aufzuwerten». Holen Sie die (positive) Einzigartigkeit einer Person in den Vordergrund, stellen Sie sie auf ein Podest und werten Sie sie als Person auf, nicht für das, was sie tut. Lesen Sie dazu den Beitrag «Mit Feedback Vertrauen gewinnen». Recherchiert man noch ein bisschen, stellt man erstaunt fest, dass das Gleichnis von den Talenten im Neuen Testament zum heutigen Wortsinn einer besonderen Fähigkeit, Begabung oder Geschicklichkeit geführt hat.
Zum besseren Verständnis des Talententwicklungsprinzips und um die eingangs erwähnten Fragen zu beantworten, braucht es einen Blick zurück auf vier Phasen, quasi von 1.0 zu 4.0.
Phase 1.0: Körperkraft (Höhlenbewohner)
Anfänglich verlieh Körperkraft eine bestimmte Macht und grössere Überlebenschancen. Interessanterweise haben die Begriffe Kraft und Macht auch heute noch ihre Berechtigung. Hier ist anzumerken, dass Kraft eine der Quellen von Macht ist. Haben Sie sich zum Begriff der Macht und zu den Quellen der Macht schon Gedanken gemacht? Lesen Sie dazu den Beitrag «Leadership: legitime Macht». Wie klingt das Wort «Macht» in Ihren Ohren: positiv, negativ, neutral? Im Zusammenhang mit dem Begriff der Körperkraft erinnere ich mich an den vor fast zehn Jahren erschienenen Artikel einer amerikanischen Zeitschrift über die Körpergrösse der CEO im Vergleich zur Durchschnittsgrösse der Amerikaner. Eine Untersuchung hatte ergeben, dass die CEO durchschnittlich 2 cm grösser waren als all die andern.
Phase 2.0: IQ, Intelligenzquotient
Auch das menschliche Gehirn hat sich aus der Höhlenbewohnerzeit fortentwickelt und sich neue Horizonte erschlossen. Es hat an Umfang (zusätzliche Schicht und höhere Anzahl Verbindungen) zugenommen und uns intelligenter werden lassen. In Sachen Talententwicklung hat sich dies in der Entwicklung von Intelligenztests niedergeschlagen. Man findet sie noch in manchen Abklärungen oder Assessments, unter anderem bei den Numerus-Clausus-Prüfungen für den Zugang zum Medizinstudium. Intelligenz als solche bleibt wichtig, ist aber nicht (mehr) der alles entscheidende Faktor. Heutzutage liegt das Schwergewicht auf der weniger bekannten emotionalen Dimension der Intelligenz. Lesen Sie dazu den Beitrag «Leadership und emotionale Intelligenz: ein Schlüssel auf dem Weg zum inspirierenden Leader!»
Phase 3.0: Kompetenzen (Skills)
Insofern Intelligenz alleine nicht der Hauptfaktor für das Talent ist, verschob sich der Akzent auf die Entwicklung und das Trainieren von Kompetenzen. Selbstverständlich sind da manche Personen bevorteilt. So hatte jemand wie Roger Federer sicher eine Veranlagung für seinen Job, das Tennisspielen, aber vergessen wir nicht, dass er unglaublich viel trainiert, grosse Disziplin hat und seine Energie einzuteilen weiss.
Gerade in der Welt des Sports ist das Talentscouting aufgetaucht: Beobachter werden losgeschickt, um jene Athletinnen, Fussballer usw. aufzuspüren, die sowohl die Veranlagung als auch den Willen zum Weiterkommen haben. In den Unternehmen haben sich die Entwicklungsprogramme in den letzten Jahren allerdings weg vom Talentscouting hin zur Entwicklung der Kompetenzen verschoben.
Haben Sie sich im Zusammenhang mit dem Talentscouting in Ihrer Firma oder Organisation schon die Frage gestellt, ob Talentscouting überhaupt möglich ist, ob es bestimmte Personen gibt, die die Kompetenz haben, künftige Talente aufzuspüren? Natürlich gehört dies nicht zuletzt zur Rolle des Vorgesetzten. Doch wie viele Vorgesetzte verfügen tatsächlich über diese Kompetenz und können gleichzeitig «gerecht» sein? Viele Unternehmen integrieren in ihren Talententwicklungsprozess denn auch eine Rekrutierungsphase mit Assessments, um Fehlbesetzungen zu vermeiden.
Nach meinem Dafürhalten sind diese «assessments» durch «development centers» zu ersetzen, und die Vorgesetzten sind in den ganzen Talententwicklungsprozess zu integrieren. Sie müssen ihren Teil der Verantwortung übernehmen, und dazu gehört auch das Finden und Fördern von Talenten. Deshalb ist es wichtig, den Kaderleuten die Tools und Kompetenzen zum Finden und Fördern von Talenten zu vermitteln.
Phase 4.0: Anpassungsfähigkeit (Chamäleon)
Seit einigen Jahren befinden wir uns nun in der vierten Phase der Talententwicklung. Die drei vorhergehenden Phasen bleiben von Bedeutung, aber der Schwerpunkt verschiebt sich einmal mehr. Viele Unternehmen und Organisationen sind noch in der dritten Phase stecken geblieben. Um die aktuellen und künftigen Herausforderungen im VUCA-Umfeld annehmen zu können, muss man auf den Begriff der Anpassungsfähigkeit setzen. Lesen Sie dazu den Beitrag «Herausforderungen der Unternehmen: digitaler Wandel, Unsicherheiten, Komplexität, Beschleunigung – Antworten und Dilemmas». Die Antwort auf Komplexität, Mehrdeutigkeit, Volatilität und Unsicherheit setzt bei grösserer Agilität, also bei der Anpassungsfähigkeit an.
Anpassungsfähigkeit heisst, sich autonom entlang des Umfelds und der Ereignisse zu entwickeln und bei Bedarf die eigenen Funktions- und Verhaltensweisen (Haltung), ja sogar seine Meinungen anzupassen.
Ohne mich in Details zu verlieren, möchte ich bestimmte Themen hervorheben, die in Ihren Ausführungen im Zusammenhang mit der Anpassungsfähigkeit zu berücksichtigen sind. Für Ihre künftigen Programme ist es wichtig, die folgenden Kompetenzen und Themen schwerpunktmässig zu behandeln:
- Analysekompetenz (inklusive Einsatz von künstlicher Intelligenz).
- Zuhörkompetenz, mit besonderer Betonung der Kompetenz, die Kunden und ihre Bedürfnisse, aber auch die Mitarbeitenden und Partner wahrzunehmen.
- Digitale Kompetenzen: Einsatz digitaler Werkzeuge.
- Kompetenz des gesunden «Duells», der kreativen Konfrontation: den Austausch gegensätzlicher Ideen wagen, Herausforderungen annehmen, sich gegenseitig produktiv und vor allem respektvoll hinterfragen.
- Mit Begriffen wie Komfortzone, Mut, Ängste operieren, um die Ressourcen zu deren Überwindung zu entwickeln. Lesen Sie dazu den Beitrag «Management: Wie lässt sich eine mutige Haltung fördern?»
- Stressbewältigung, Selbstmanagement und Arbeiten an der individuellen und der Gruppenresilienz. Im Hinblick auf die Resilienz zeigt uns die Coronaviruskrise, wie wichtig es ist, dass nicht nur jeder Einzelne seine Resilienz entwickelt, sondern auch Unternehmen und Organisationen.
- Selbstreflexion, Arbeit an Haltung und emotionaler Intelligenz
- Kollektive Intelligenz (Begriff des Teams, des Partners). Wichtigkeit der Interaktionen für das individuelle Weiterkommen.
- Schliesslich braucht es auf Ebene Leadership eine gemeinsame Sprache sowie Kohärenz und Kongruenz innerhalb des Unternehmens, um einen Rahmen zu schaffen, in dem sich Agilität und Anpassungsfähigkeit entfalten können. Damit wird eine grössere psychische Sicherheit ermöglicht, die ihrerseits zu Optimismus und positiver Dynamik führt.
Verwenden Sie diese Punkte als Checkliste. Wenn Sie jetzt Ihre Talentförderungskonzepte und -programme betrachten, welche dieser Punkte sind bereits berücksichtigt? Welche müssen Sie ergänzen?
Ich wünsche Ihnen jede Menge Talente 4.0!