Spannung, eine Ressource mit hohem Potenzial

Ohne Spannung keine Entwicklung, kein Leben. Treibt man einen Kreisel nicht an, ist er also nicht in Bewegung, dann bleibt er nicht aufrecht und verliert das Gleichgewicht. In einem Gummiband lässt sich durch Spannung Energie speichern, die es beim Entspannen wieder abgibt. Selbstverständlich darf man es nicht übertreiben, sonst reisst es. 

So ist es auch im zwischenmenschlichen Bereich, in Beziehungen, bei der Arbeit oder in Organisationen. Spannungen sind eine Ressource mit hohem Potenzial, das es bewusst und überlegt einzusetzen gilt.

Zitat:

«Sich entwickeln, konkurrenzfähig bleiben bedeutet, immer in Bewegung zu sein.» David Fiorucci 

«Spannung» ist wie die lateinische Entsprechung «tensio» die Nominalisierung des Verbs «spannen» («tendere») und dürfte ursprünglich auf das Spannen der Bogensehne verweisen. Im übertragenen Sinn geht es um eine Situation, in der eine Kraft oder ein Druck auf ein Objekt oder eine Person ausgeübt oder ihnen ein Widerstand entgegengestellt wird. Verwendet wird der Begriff in so unterschiedlichen Bereichen wie Elektrizität, Physik, Psychologie, Medizin oder Linguistik, um messbare und/oder gefühlte Kräfte, Drücke oder Lasten zum Ausdruck zu bringen.

Mit der Zeit weitete sich das Bedeutungsfeld des Begriffs aus. So verweist etwa «spannend» auf einen erregten, nervösen oder gereizten Zustand, der mit Druck oder emotionalem oder physischem Stress verbunden sein kann. «Spannung» kann also sowohl auf eine physische Kraft als auch auf einen psychischen oder emotionalen Zustand verweisen.

Es geht um eine Energie, eine Ressource, die man zur Verwirklichung einer Tätigkeit verwenden kann. Allerdings wird ihr Potenzial oft ausgeblendet, weil sie bei unsachgemässem Einsatz Schaden anrichten und Probleme bereiten kann.

Dies ist auch der Grund, weshalb Spannung oft mit negativen Emotionen konnotiert ist, schliesslich vermag sie Stress und Unruhe auszulösen. 

Hier zunächst ein paar Empfehlungen, um das Beste aus der Spannung herauszuholen:

  1. Spannung erkennen: Der erste Schritt, um von einer Spannung zu profitieren, ist, die damit verbundene Emotion zu erkennen. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um sich auf Ihre körperlichen und emotionalen Empfindungen einzulassen, und versuchen sie festzuhalten, was Ihre Spannung verursacht.
  2. Spannung kanalisieren: Ist die Quelle Ihrer Spannung erst einmal identifiziert, versuchen Sie, Mittel und Wege zu finden, diese Spannung auf positive Weise zu kanalisieren. Wenn Sie etwa wegen eines bevorstehenden Termins angespannt sind, nützen Sie diese Spannung, um Ihre Ziele zu erreichen.
  3. Spannung als Signal erkennen: Ein Spannungszustand kann dazu dienen, Sie vor etwas zu warnen, um Ihnen stressige oder gefährliche Situationen zu ersparen. Empfinden Sie in einer bestimmten Lage eine hohe Anspannung, kann dies ein Zeichen dafür sein, dass sie eine Pause einlegen oder sich der Situation zu entziehen versuchen sollten.
  4. Wenn sich Spannung nicht produktiv nutzen lässt, versuchen Sie, entsprechenden Auslösern auszuweichen. Machen Sie die Nachrichten im Fernsehen nervös? Dann schalten Sie das Gerät aus und informieren Sie sich anderweitig.
  5. Legen Sie sich einen Buddy zu: Wenn Sie Mühe im Umgang mit Spannungszuständen haben, überlegen Sie sich, ob Sie einen Kollegen, eine Freundin oder ein Familienmitglied ins Vertrauen ziehen könnten. Manchmal lassen sich Spannungen allein dadurch abbauen, dass man seine Emotionen verbalisiert.

Wenn wir Spannung empfinden, kann uns dieses Gefühl auch Motivation vermitteln und uns dazu antreiben, wichtige Aufgaben anzupacken oder ein anspruchsvolles Ziel zu erreichen. Spannung kann uns dabei helfen, konzentriert zu bleiben, das Energielevel zu halten und die Herausforderungen des Lebens zu meistern.

Im Kontext der Holacracy wird Spannung definiert als das Empfinden/Wahrnehmen einer Abweichung zwischen der aktuellen und der erwünschten Wirklichkeit. Dabei kann es sich um ein Problem, eine Chance, ein Bedürfnis oder ein Bestreben handeln, das von einem Individuum oder einer Gruppe (Team, Kreis) wahrgenommen wird und nach einer Handlung ruft, die die Spannung abbaut.

Wird eine Spannung ausgemacht, dann kommt sie in einem sogenannten Steuerungskreis zur Sprache. Dieser Prozess erlaubt dem Individuum oder dem Team, die Spannung zu beschreiben, sie zu klären und in einen Handlungsvorschlag zur Verbesserung der Situation münden zu lassen. 

Ist der Handlungsvorschlag formuliert, wird er in einem sogenannten Verantwortlichkeitskreis behandelt; bei diesem Prozess werden den Teammitgliedern die spezifischen Aufgaben zugewiesen und es werden Fristen gesetzt, um zu gewährleisten, dass die nötigen Schritte erfolgen.

Das Potenzial der Spannungen im Kontext der Holacracy liegt darin, dass sie es der Organisation ermöglichen, sich rasch an Änderungen anzupassen und dabei kontinuierlich ihre Prozesse und ihr Funktionieren zu verbessern. Identifiziert und behandelt die Organisation Spannungen rasch, kann sie effizienter Probleme lösen und Chancen packen, was zu einer besseren Performance und einer grösseren Befriedigung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beitragen kann. 

Überdies fördert der Prozess des Spannungsabbaus die Zusammenarbeit und die integrative Entscheidungsfindung, was die Unternehmenskultur und das Engagement der Mitarbeiter befeuern kann.

Bias beim Arbeiten mit Spannungen

Meine Erfahrung mit Unternehmen, die ich begleite und/oder die mir nahestehen und nach dem Prinzip der Holacracy funktionieren, legt nahe, dass das Behandeln der Spannungen eskalieren kann. Auf einmal wird alles und jedes zur Spannung, und auch noch das belangloseste «Problem» und jede atmosphärische Schwankung wird sogleich in die dafür vorgesehenen Gefässe eingebracht. 

In Sachen Übernehmen von Verantwortung (der im Englischen dafür verwendete Begriff ist «accountability») musste ich feststellen, dass sich die Beteiligten zunehmend davor drücken und sich auch nicht um Selbstreflexion bemühen. 

Tatsächlich fehlt vielen der sogenannten Spannungen die Daseinsberechtigung bzw. sie können von der sie empfindenden Person selbst gemanagt werden oder gar unbeachtet bleiben, damit sie gar nicht erst den Prozess bremsen, einzelne Schritte verunmöglichen oder eine miese Stimmung verbreiten.

Wesentlich ist, die eigenen Spannungen zu bedenken und sich zu fragen, ob sie es wert sind, in den Prozess eingebracht zu werden, und zwar bevor sie auf die Traktandenliste des Treffens gelangen. Es gilt also, vorgängig die Spreu vom Weizen zu trennen.

Buddy

Lassen Sie mich schwergewichtig auf den unter Punkt 5 der vorstehenden Aufzählung erwähnten «Buddy» zurückkommen.

Bei einem «Buddy» kann es sich je nach Kontext um Verschiedenes handeln.

Grundsätzlich ist ein Buddy eine Kollegin, ein Berufskamerad, eine Vertrauensperson, also jemand, mit dem man in freundschaftlichem, vertrauensvollem Austausch steht.

In der Arbeitswelt wird unter einem Buddy oft auch ein Mentor verstanden, also etwa eine erfahrene Kollegin oder ein Götti, die Neulingen dabei helfen, sich in ihrer neuen Arbeitsumgebung zurechtzufinden und ihre Verantwortung wahrzunehmen. In diesem Fall verweist «Buddy» dann allerdings auf ein wechselseitiges Verhältnis. Man spricht etwa auch von «reverse mentoring» und meint damit, dass die betreute jüngere und unerfahrene Person der Mentorin oder dem Mentor zumindest in einem spezifischen Bereich unverbrauchte, frische Perspektiven eröffnet. Im Gegensatz zum herkömmlichen Mentoring, bei dem sich Ältere, Erfahrene um die Newcomer kümmern, werden die Rollen also durchaus auch umgedreht, so dass der Betreute seine Skills mit dem Betreuer teilt.

Ich verwende den Buddy-Ansatz seit dreissig Jahren systematisch in allen Unternehmen, für die ich gearbeitet oder die ich begleitet habe bzw. immer noch begleite.

Auch bei Weiterbildungen oder Workshops bilde ich Tandems, also Ausbildungs- und Transfer-Zweiergruppen, die eine spezifische Rolle und entsprechende Ausbildungsaufgaben haben, und zwar zwischen den einzelnen Modulen, vor allem aber nach der eigentlichen Weiterbildung.

Der Auftrag zur Tandembildung ist alles andere als kompliziert: Die beiden Beteiligten haben 15 bis 20 Minuten Zeit, um sich über drei Fragen zu unterhalten:

  1. Inwiefern gleichen wir uns?
  2. Inwiefern unterscheiden wir uns?
  3. Inwiefern ist mein Gegenüber einzigartig?

Die geteilten Ähnlichkeiten bilden quasi das Eintrittstor zum Gegenüber; sie ermöglichen es, miteinander ins Gespräch zu kommen. Die Unterschiede machen uns stärker, weil sie aufzeigen, wo wir uns ergänzen (gemeinsam sind wir stark), während schliesslich die Einzigartigkeit es ermöglicht, das Gegenüber auf einen Sockel zu stellen und ihm Wertschätzung entgegenzubringen.

Unternehmen, die sich dieser Herausforderung stellen, Tandems mit Personen verschiedener Abteilungen bilden und eine entsprechende Praxis verankern, schaffen es, Schritt für Schritt Silos abzubauen, das Vertrauen zu fördern und vor allem Vorurteile zu reduzieren.

Angesichts all der Challenges im Alltag der vergangenen Jahre hat mich ein Tier mehr und mehr in den Bann gezogen, und zwar der Oktopus. Mehr darüber wird in einem meiner nächsten Beiträge zu erfahren sein und im nächsten Buch, das mein Mitautor Thomas Nast und ich verfassen. 

Einer der wesentlichen Aspekte beim Oktopus ist die Verteilung der Neuronen in seinem Körper und, damit verbunden, die Art, wie das Tier seine Energie dosiert.

Neuronen sind nämlich aufs Energiesparen aus, um möglichst effizient zu funktionieren. Sie sind in der Lage, ihren Energieverbrauch in Abhängigkeit von der neuronalen Aktivität zu regulieren. Sind die Neuronen inaktiv, reduzieren sie ihren Energieverbrauch, um die Energiereserven im Körper zu schonen. Sobald sie jedoch aktiv werden, erhöhen sie zugunsten der neuronalen Aktivität ihren Energieumsatz.

Dies hat mich dazu geführt, spezifische Aufgaben für den Buddy zu entwickeln, und zwar nicht zuletzt wegen der positiven Dynamik, die wir alle gerade heutzutage dringend nötig haben, und im Hinblick auf unsere Vertrauenswürdigkeit, also darauf, dass wir tatsächlich tun, was wir sagen. 

Seit ein paar Jahren gebe ich mit meinem Ansatz den Buddys deshalb jeweils drei Aufgaben:

  1. Das Gegenüber herausfordern, damit es nicht bei Lippenbekenntnissen bleibt, sondern umsetzt, was abgemacht war. 
  2. Das Gegenüber bestärken, indem man seine Erfolge wertschätzt und die positiven Aspekte seines Tuns und seiner Entscheidungen betont.
  3. Dem Gegenüber dabei helfen, seine Energie zu dosieren, indem man es auf die begrenzten Ressourcen hinweist und es daran erinnert, dass man manchmal nein sagen, eine Pause einlegen, auftanken oder eine Standortbestimmung vornehmen muss.
    Der Blick eines vertrauenswürdigen Gegenübers auf uns hilft uns zu erkennen, was wir gelegentlich verdrängen. Vor allem aber fühlen wir uns dank des Gegenübers nicht allein auf weiter Flur.

Suchen Sie sich eine/n Buddy in Ihrem Unternehmen und tauschen Sie sich regelmässig miteinander aus, damit sie gemeinsam zum Erreichen Ihrer je eigenen Ziele und jener Ihres Unternehmens beitragen können – ohne dass Sie sich auspowern, Ihren Schwung verlieren, freudlos werden oder auf der Strecke bleiben.·

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