Kann ein Chef gerecht sein?

Gerechtigkeit ist oft ein Tabuthema. Meine Erhebungen der letzten 25 Jahre kommen allerdings zum Schluss, dass sie fast immer erwartet wird. Auf die Frage, was ein guter Chef bzw. eine gute Chefin sei und welche Erwartungen man dieser Person gegenüber hege, taucht die Dimension Gerechtigkeit fast systematisch auf. Am häufigsten genannt werden Begriffe wie Gerechtigkeit, Gleichbehandlung, Fairness.

Der Ungerechtigkeit begegnen wir ja auch alle stark emotional, gerade wenn sie uns näher betrifft. Wir reagieren, wenn wir uns ungerecht behandelt fühlen. Etwas passiert in uns drin, ein Unbehagen macht sich bemerkbar.
Sogar die Primaten haben einen Sinn für Ungerechtigkeit. Dies zeigt ein aufschlussreiches kleines Experiment: Youtube, «Monkeys reject unequal pay».

Definition
Gerechtigkeit ist ein moralisches Prinzip des Zusammenlebens, ausgehend von der Anerkennung und der Einhaltung des Rechts der andern, das sich im natürlichen Recht (ausgleichende Gerechtigkeit) oder im materiellen Recht (Gesetz) manifestiert. Gerechtigkeit erstreckt sich auch auf die Macht einzugreifen, um diese Rechte geltend zu machen und sie durchzusetzen (Beispiel: Recht sprechen).
Ausgleichende Gerechtigkeit bedeutet, jedem zuzuteilen, was ihm laut den Prinzipien der natürlichen Gerechtigkeit zusteht, also Unparteilichkeit oder Fairness.

Bei meinen Vorträgen, Ausbildungen, Workshops oder wenn ich Führungskräfte (Verwaltungsräte, Unternehmensleiter) und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit dem Thema Gerechtigkeit konfrontiere, frage ich sie immer, ob ein Chef gerecht sein könne.

Nach kurzem Zögern kristallisieren sich drei Gruppen heraus:

  1. Jene, die recht rasch, spontan mit Ja antworten, etwa 5 Prozent.
  2. Jene, die nach kurzer Überlegung antworten, Chefs MÜSSTEN gerecht sein, etwa 10 Prozent.
  3. Der grösste Teil schliesslich sagt Nein, etwa 85 Prozent.

Dazu vermittle ich die folgenden Überlegungen:
Am Abend sollen wir uns in den Spiegel schauen und uns sagen können, dass wir nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt haben. Vielleicht hatten wir nicht alle Informationen, ein Element hat uns allenfalls gefehlt und wir haben gegenüber der einen oder anderen Person einen ungerechten Entscheid gefällt. Ist dies der Fall, kann und muss ich mich entschuldigen. Ich bin nur ein Mensch. Und ja, wir sollen unser Bestes geben. Soweit die Antwort auf jene, die sagen, man müsse als Chef gerecht sein.

All jene, die Nein sagen, erfassen, dass eine ergänzende Dimension hinzukommt, die individuelle Wahrnehmung. Und tatsächlich, um die Wahrnehmung geht es!
Was für mich, aus meiner Perspektive gerecht ist, ist es für eine andere Person nicht unbedingt.

Fragen Sie verschiedene Personen, was «Gerechtigkeit» für sie bedeutet, um sich dessen bewusst zu werden.
Sie werden feststellen, dass alle unterschiedliche Elemente nennen. Selbstverständlich werden sich einige davon ähneln, aber Sie werden Unterschiede feststellen.
Stellen Sie sich deshalb nicht die Frage «Bin ich gerecht?», sondern «Werde ich als gerecht wahrgenommen?». Und Sie haben den Schlüssel zu einem guten Chef bzw. einer guten Chefin.

Rufen Sie sich die neun Dimensionen eines guten Chefs (siehe das achtminütige Video auf www.lp3leadership.com) in Erinnerung und Sie werden sehen, welche davon einen direkten Einfluss auf die Wahrnehmung der Gerechtigkeit haben. Verschiedene meiner vorhergehenden Beiträge befassen sich mit diesen Dimensionen.
Zunächst Sie als Vorbild und Ihre Werte: Die Kohärenz dieser beiden Elemente nennt sich Integrität und erlaubt es, eine Grundlage des Vertrauens zu schaffen. Überdies vermittelt Ihre Präsenz Authentizität, und Ihre Kommunikationsfähigkeit (Transparenz, Aufrichtigkeit) erlaubt es andern, Ihren Argumenten zu folgen.
Damit werden Ihre Entscheidungen nicht in Frage gestellt. Zwar verstehen Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sie vielleicht nicht, aber weil sie Ihnen vertrauen, werden sie sie nicht in Frage stellen. BINGO! Sie können Ihrer Arbeit nachgehen. Werden Ihre Entscheide und Handlungen hingegen angezweifelt, müssen Sie einen Grossteil Ihrer Ressourcen und Ihrer Energie zum Erklären, Argumentieren, Korrigieren und Rechtfertigen aufwenden. Das kann Legitimitäts- oder gar Respektverlust nach sich ziehen.

Präzisen Rahmen vorgeben
Das Definieren eines präzisen Rahmens ist im Zusammenhang mit der Idee der Gerechtigkeit ebenfalls zentral. Ausschlaggebend dafür ist, Regeln, Standards und Führungsprinzipien festgelegt zu haben, an denen man sich orientieren kann.
Wenn ich auf der Autobahn mit 160 km/h unterwegs bin und mich der Radar erwischt, regt mich das zwar vielleicht auf, aber ich weiss, dass ich eine Regel übertreten habe und dafür bezahlen muss. Die Konsequenzen sind klar und die zugrunde liegende Regel auch.
Diese Prinzipien gelten auch im Privatleben, beispielweise bei der Kindererziehung. Es ist wichtig, für bestimmte Verhalten klare Konsequenzen vorzugeben und diese treffsicher zu kommunizieren.

Um das Vertrauen zu gewährleisten, dürfen bei diesen Regeln ausser in nachvollziehbaren und gerechtfertigten Fällen keine Ausnahmen gemacht werden. Jedes Abweichen schwächt die Glaubwürdigkeit des Systems und die Ihrer Person!

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erwarten von ihren Führungskräften also, dass sie sich fair verhalten. Sie müssen so fair wie nur möglich belohnen und sanktionieren. Wird jemand als fair empfunden, werden seine Entscheide nicht ständig hinterfragt.

Selbstreflexion

  • Wann fühlen Sie sich fair behandelt?
  • Wie reagieren Sie auf Ungerechtigkeit?
  • Wie stellen Sie sicher, dass Sie als faire Führungskraft wahrgenommen werden?
  • Können Sie sich abends in den Spiegel schauen?

Zitat

«Wer zwei Menschen gleich behandelt, behandelt einen falsch.»

Viktor Frankl, 1905-1997

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