Wenn ich all die Nachrichten lese, die ich Tag für Tag über das Coronavirus erhalte und auch noch all den Klatsch und die Unterstellungen berücksichtige, die manche Quellen verbreiten, sehe ich das Panikrisiko tatsächlich ansteigen und fühle auch in mir drin Angst aufsteigen. Ich sorge mich um meine Familie, meine Kinder, meine Frau, meine 80-jährige Mutter, meine 82 und 83 Jahre alten Schwiegereltern, meine Freunde, Bekannte, Kunden … und um mich selbst.
Dann sage ich STOPP. Ich fasse mich, überlege und betrachte die Situation aus einer anderen Perspektive. Und schäle die versteckten Botschaften des Coronavirus heraus. Was kann man aus der aktuellen Situation lernen, die wir als direkt oder indirekt Betroffene gerade erleben?
- Ja, die Lage ist heikel, kritisch.
- Ja, man muss sie ernst nehmen.
- Ja, man muss aufpassen.
- Ja, die finanziellen Folgen werden verheerend sein oder sind es für viele Menschen und Unternehmen bereits. Sie können sich denken, dass es mich und meine Firma ebenfalls direkt betrifft, wie die meisten von Ihnen.
Und wer von uns denkt nicht besonders an das Personal und die Institutionen aller Ebenen im Gesundheitsbereich? In manchen Regionen und Ländern haben sie zur Zeit ein besonders schweres Los. Wir müssen alles tun, um sie zu unterstützen und ihre Überlastung zu vermeiden. Panik und Hysterie sind da keine guten Ratgeber.
Kühlen Kopf bewahren und Lösungen, neue Lösungen suchen, ist die Devise. Ändern wir unsere Sichtweise. Dabei stossen wir auf sechs wesentliche Erkenntnisse, die in unserem Alltag wieder zu ihrem Platz kommen. Ob zu Hause in Ihrer Familie, bei der Arbeit mit Ihren Kolleginnen, Angestellten oder unter Freunden erhalten diese Erkenntnisse eine bisher nicht gekannte Dimension.
Erkenntnis Nr. 1: sich Zeit nehmen
In einer sich ständig weiter entwickelnden Welt, in der alles immer schneller geht und komplexer wird, verstricken wir uns oft in diese Beschleunigung und können nicht mehr still stehen. Wir drehen uns und rennen wie ein Hamster in seinem Rad.
Wie oft habe ich in meinen Weiterbildungen nicht darauf hingewiesen, dass man sich Zeit nehmen muss. Und seien es auch nur zehn Minuten für sich selbst oder das Gegenüber. Die durch die Schliessung der Läden, Restaurants und Freizeiteinrichtungen erzwungene Entschleunigung ermöglicht uns, Zeit zu nehmen. Für manche eine Chance, für andere eine ganz neue Erfahrung. Am Anfang werden sie vielleicht gar verloren sein. Ermutigen wir sie und helfen wir ihnen dabei, den Geschmack der Verlangsamung zu kosten.
Erkenntnis Nr. 2: mentale Präsenz (Bewusstwerdung)
Solche Situationen lassen einen nachdenken. Unsere Lebensweise, unsere Konsumgewohnheiten, unsere Art zu kommunizieren, alles wird in Frage gestellt. Seit dem Auftauchen der Coronaviruskrise bin ich mit meinen Kindern mehr ins Gespräch gekommen. Einerseits langweilt es sie, dass sich 80 Prozent der Diskussionen um dieses Thema drehen, aber das ändert nichts daran, dass wir mehr diskutiert haben. Eine solche Situation lädt zum Näherrücken und zum Austausch ein. Und dieser vertieft sich, weil wir unsere Ängste, Überlegungen und Werte miteinander teilen. Natürlich sind da auch noch die sozialen Medien und die Mobiltelefone als Schlüsselvektoren. Trotzdem kommen wir weit mehr ins Gespräch als bisher. Nicht zuletzt deshalb, weil wir öfter ein und denselben Raum teilen.
Erkenntnis Nr. 3: Wiederbelebung des Respekts durch soziale Distanz
Eine der effizientesten Massnahmen zur Eindämmung einer Epidemie ist, gegenüber Risikopersonen eine bestimmte Distanz zu wahren, die sogenannte soziale Distanz. Im Fall des Coronavirus sind dies die über 65-Jährigen oder Personen mit gesundheitlichen Problemen.
Aus meiner Sicht läuft das Einführen der Pflicht zu sozialer Distanz auf die Wiederbelebung der Idee des Respekts hinaus. Die Jungen verstehen diese Regel mit aller Selbstverständlichkeit, erweisen den Alten damit Respekt und werden von diesen entsprechend respektiert. Ich finde das Thema «Reverse Mentoring» ganz passend: Eine junge Person kann so viel von einer alten lernen wie umgekehrt. Mir zeigt sich dies an der Beziehung meiner Kinder zu ihren Grosseltern aus der Deutschschweiz, aber auch zu ihrer Nonna. Die Distanz dient zunächst dem Schutz des andern und bringt Respekt zum Ausdruck.
Mit meinem italienischen Hintergrund bin ich «touchy», umarme oft und gern und habe das Wahren von Distanz erst lernen müssen. Mit Distanziertheit jedoch hat dies nichts zu tun! Mit seiner Energie und seinem Respekt kann man sich ganz nahe sein und trotzdem eine bestimmte Distanz wahren. Indem ich ein Beispiel gebe und die Integrität des Gegenübers ernst nehme, zeige ich, wie wichtig mir die Person ist, ob es sich nun um meine Frau, meine Kinder, meine Mutter oder meine Kunden handelt.
Erkenntnis Nr. 4: Disziplin
In der Wirtschaftswelt der Unternehmen, die ich begleite, so gut wie im Privatleben mit meinen Kindern und Freunden stelle ich eine Tendenz fest, und zwar die, dass die Disziplin abnimmt. In der gegenwärtigen Situation sind wir im Zusammenhang mit dem Virus zu einer strikten Disziplin gezwungen: Hygiene, Kontakte, Reisen, Austausch.
Allein die Tatsache, dass wir wieder lernen müssen, die Hände zu waschen, gibt ein gutes Beispiel ab. Die Umstände führen dazu, dass wir uns daran halten. Ich musste da nicht mal insistieren. Plakate und Videos tauchen überall auf, manche Freunde schicken mir humorvolle Videos, die diese notwendigen Reflexe verstärken. Für meine Seminare habe ich denn auch eine Flipchart-Seite mit diesen Regeln gezeichnet. Und ich stelle fest, dass sich in meiner Umgebung alle daran halten. Die Disziplin dazu ist wie selbstverständlich da.
Erkenntnis Nr. 5: Kleingruppen (Familie)
Aus meiner Perspektive ebenfalls ganz positiv ist das Vermeiden grosser Veranstaltungen und Gruppen. Damit werden die kleinen Gruppen von 3 bis 8 Personen wieder wichtig (ich rede oft von der Familiengrösse). In dieser heiklen Zeit habe ich mich dazu entschlossen, nur noch Ausbildungen in kleinen Gruppen anzubieten, in grosszügigen Räumen, in denen sich die erforderliche «soziale Distanz» einhalten lässt. Zunächst sind klare Regeln zu formulieren:
- Begrüssung mit vor der Brust aneinandergelegten Handflächen und einer kleinen Verbeugung, wie es
- in der asiatischen Welt üblich ist
- Hände waschen (Desinfektionsdispenser steht im Raum zur Verfügung)
- Desinfiziertes Material (Stühle, Tische, Ordner)
- 2 Meter Personenabstand gemäss den geltenden Vorgaben
- Genügend Parkplätze
- … gemäss Bedarf
In kleinen Gruppen ist der Austausch intensiver, die einzelnen Personen profitieren mehr und die individuellen Bedürfnisse können detaillierter angegangen werden. Überdies entsteht innerhalb der Gruppe eine Kraft.
Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl vermittelt der Gruppe weitere Kraft und Energie. Wie in einer Familie, die zusammensteht, sich gegenseitig unterstützt und hilft. Dies führt uns zur letzten Erkenntnis.
Erkenntnis Nr. 6: gegenseitige Unterstützung als Stärke der Partnerschaft
Seit Urzeiten helfen sich die Menschen, wenn es zu Krisen kommt. Genau das ist es, was uns adelt und zu Menschen macht. Schauen Sie sich um und Sie werden feststellen, dass die Leute seit einiger Zeit immer einsamer wurden: An Alten, Unternehmensführern, Kollegen, Freunden, ja vielleicht gar an Ihnen selbst zeigt sich, dass die Einsamkeit eine der Achillesfersen unserer heutigen Gesellschaft ist. Soziale Medien und Mobiltelefone sind nicht bloss Lösungen, sondern oft vielmehr die Ursache dieser Einsamkeit.
Wenn wir jetzt einer nie da gewesenen Krise begegnen müssen, sind für viele von uns Solidarität und gegenseitige Hilfe die Hebel, mit denen wir äusserst schwierige Situationen zu überwinden vermögen. Die Kraft dieser Partnerschaftlichkeit und des gegenseitigen Helfens macht uns menschlicher und zu Brüdern und Schwestern. All die sich vor uns auftürmenden Schwierigkeiten können wir nur gemeinsam meistern. Sie können genauso auf mich zählen wie meine Frau, meine Kinder, meine Familie, meine Freunde und meine Kunden.
Nehmen wir zum Beispiel meine 80-jährige Mutter. Die aktuelle Situation und die damit einhergehenden Zwänge könnten sie noch stärker isolieren. Sie sollte keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen, nicht mehr in die Läden gehen usw. Also kaufen meine Kinder für sie ein und bringen ihr, was sie braucht, nach Hause. Sie halten soziale Distanz (Respekt) und verbringen einen Moment mit ihr. Ich besuche sie regelmässig, trinke eine Tasse Kaffee mit ihr und rede mit ihr. Erst gestern sind wir mit dem Auto gemeinsam zum Grab meines Vaters gefahren, dann ist sie drei viertel Stunden lang zu Fuss nach Hause gegangen. Mit einer SMS hat sie mir mitgeteilt, sie sei gut angekommen. Tun wir solches für unsere Nächsten, aber auch für unsere Freunde. Die spezielle Situation sollte uns nicht voneinander isolieren, sondern uns einander vielmehr näher bringen, uns stärken, Solidarität erzeugen. Dasselbe gilt auch für unsere Kundinnen und Kunden. Mit der nötigen sozialen Distanz und nach den festgelegten Regeln lassen sich neue Formen des Austauschs, der Entwicklung und der Zusammenarbeit finden.
Und schliesslich noch ein Tipp für Ihren nächsten Ausgang (frische Luft): Gehen Sie hinaus, in den Wald, mit einem Freund oder einem Familienangehörigen. Nehmen Sie sich Zeit dafür. Frische Luft tut gut. Werfen Sie während des Spaziergangs auch einen Blick an den Wegrand, wo Sie wahrscheinlich viel Plastik- und anderen Müll entdecken werden. Nehmen Sie das eine oder andere mit, entsorgen Sie es nach den Regeln der Kunst und tragen Sie etwas zu einer besseren Welt bei. Vielleicht haben Sie sogar eine Tüte mit «Samenbomben» (kleine Kugeln aus Erde, in die verschiedene Körner/Samen eingearbeitet sind) bei sich.
Kommen Sie an einem Ort vorbei, der ihnen günstig scheint, dann setzen Sie eine dieser «Bomben» ab und tragen Sie auf diesem Weg zu mehr Biodiversität bei. Sollten daraus Blumen und Farben entstehen, werden sie die Spaziergänge anderer bereichern.
Alles Gute! Und bleiben Sie gesund!