Hat Leadership ein Geschlecht? Wird Leadership weiblicher?

Ich bin sicher, dass manche Leserinnen und Leser schon beim «provokanten» oder gar verstörenden Titel eine erste Reaktion zeigen.

Keine Angst, es geht hier nicht um Geschlecht, Typologien oder gar Stereotypen. Dies würde dem Facettenreichtum des menschlichen Wesens nicht gerecht und wäre allzu simpel.

Denn Diversität ist ein Trumpf. Zwar wissen wir das längst, aber die bewusste, gewollte Umsetzung ist kein Kinderspiel. Die Geschlechter müssen auf allen Ebenen repräsentativ vertreten sein, so gut in den Verwaltungsräten als auf Direktionsebene und in Kaderpositionen. Selbstverständlich unter der Voraussetzung, dass die erforderlichen Kompetenzen vorliegen.

Doch wie steht es um die Sensibilität und die Ausprägung von Leadership im Zusammenhang mit der aktuellen Situation weltweit und in der Folge der Ereignisse, mit denen wir in den vergangenen drei Jahren konfrontiert wurden (Epidemie, Krieg, Klimaerwärmung, Energiekrisen, Lieferkettenprobleme, Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, Zunahme der psychischen und psychosomatischen Erkrankungen …)? In den letzten Jahren sprachen wir hier gelegentlich von der VUCA-Welt. Dieses Buchstabenwort hat einen Nachfolger bekommen: BANI. Denn eingestellt haben sich eine erhöhte Fragilität (B: brittle), zunehmende Ängste (anxious), nicht lineare, exponentielle Auswirkungen (non linear) und weltweite Verständnislosigkeit (incomprehensible).

Welche Art von Leadership soll man in einem solchen Kontext an den Tag legen oder, anders formuliert, welche Einflüsse auf die Leadership-Merkmale haben diese Ereignisse?

Zwei verschiedene, im letzten Jahr durchgeführte Studien stimmen in ihren Ergebnissen und Schlussfolgerungen überein. Die in solchen Situationen erforderliche Leadership hat eine Sensibilität, die wir herkömmlich ausgedrückt als «weiblicher» einstufen.

Dabei hat Leadership eigentlich weder Gender noch Geschlecht. Sie lässt sich besser mit der Symbolik von Yin und Yang abbilden. Wir Menschen, Männer, Frauen und natürlich alle Arten von Gender (LGBTiQ+) haben unterschiedliche, mehr oder weniger stark ausgeprägte oder bezogen auf unser Erleben entwickelte Sensibilitäten. Wir halten die diversen Aspekte dieser Sensibilitäten in uns in einem Gleichgewicht. Je nachdem, wo wir uns im Symbol von Yin und Yang positionieren, sind manche Aspekte präsenter, ausgeprägter als andere.

Aber wenden wir uns nach diesen einführenden Präzisierungen doch den Resultaten dieser Studien zu.

Es handelt sich: 

  • zum einen um eine 2021 von Soufyane Frimousse und Jean-Marie Peretti durchgeführte Erhebung, die in Ausgabe 4 der Revue «Question(s) de management»[1] publiziert wurde. 139 Dozenten/Forschende, Führungspersonen, HRM, operativ Verantwortliche, Expertinnen und Berater aus 21 Ländern antworteten auf die Frage: «Welche Managementstile sind nach Covid zu bevorzugen?» 
  • zum andern um diverse Workshops, die ich angeboten habe, und zwar für die französischsprachige Schweiz in Zusammenarbeit mit Christina Gaggini, der Verantwortlichen von Economie Suisse Romandie, und mit der Handels- und Industriekammer des Kantons Waadt (CVCI) – und für die Deutschschweiz mit KMU Swiss. Wir haben Leaderinnen eingeladen, über den Mehrwert der Frauen in der Leadership und über sogenannt «weibliche» Aspekte/Sensibilitäten nachzudenken. Zu den Ergebnissen beigetragen haben denn auch rund dreissig an der Spitze von KMU oder Grossbetrieben im privaten oder öffentlichen Bereich stehende Führungspersönlichkeiten.

Ohne ins Detail zu gehen und ohne die einzelnen Themen zu vertiefen: welche Hauptelemente gehen aus diesen zwei Studien hervor?

Die Ergebnisse ähneln sich sehr stark, sie stützen sich gegenseitig sehr oft und ergänzen sich manchmal.

Zugehörigkeit

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen sich einer Gruppe, einem Ganzen zugehörig fühlen können. Dank dem Sinn ihrer Arbeit und ihrem Beitrag zum Ganzen (also zum Unternehmen) fühlen sie sich weniger allein. Zum Fördern dieses Zugehörigkeitsgefühls kann der Einsatz von «Ritualen» von Interesse sein. Ebenfalls zum Zugehörigkeitsgefühl trägt bei, den Mitarbeitenden Orientierung zu vermitteln.

Selbstreflexion

Superman oder Superwoman gibt es nicht. Es ist als Vorgesetzte/r, Leader/in wichtig, die eigenen Grenzen und «Schwächen» aufzeigen zu können und es sich gelegentlich zu erlauben, um Hilfe zu bitten. Andererseits geht es darum, sich der eigenen Stärken bewusst zu sein, um das Fällen von Entscheiden zu wagen und vorwärts zu kommen. Wichtig sind hier Begriffe wie Kühnheit und Mut. Nelson Mandela sagte: «Wenn wir uns von unserer Angst befreien, befreit unsere Präsenz automatisch die andern.» Im Rahmen der Selbstreflexion kann man auch davon sprechen, dass man aus seinen Fehlern lernt, Resilienz entwickelt und schliesslich zur psychologischen Sicherheit derer beiträgt, die einen umgeben.

Teilen der Macht durch Entwicklung der andern

Stärken Leader/innen die Autonomie ihres Teams, ermuntern, erlauben und befähigen sie die andern mehr und mehr dazu, Verantwortung zu übernehmen (im Englischen spricht man hier treffend von «accountability»).

Transparenz

Transparenz im Handeln, Entscheiden und Reden gibt der Fairness und dem Gerechtigkeitsgefühl (Empfinden von Gerechtigkeit) mehr Präsenz, mehr Gewicht.

Empathie

Aktives Zuhören und wirkliches Interesse sowohl für die Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch für ihre Person haben sich im aktuellen Kontext ebenfalls als sehr wichtig herausgestellt. Dies führt nicht zuletzt zu einem gewissen Wohlwollen.

Positive Dynamik

Schliesslich schaffen und unterhalten Leader/innen mit ihrer Haltung, ihrem Vorbildcharakter, ihren Werten und ihren Taten eine positive Dynamik. Sie gehen in aller Bescheidenheit mit ihren Teams voran.

Diese sogenannt «weichere» oder «weiblichere» Leadership-Sensibilität gilt es zu berücksichtigen und ihr ein besonderes Augenmerk zu verleihen, um im aktuellen Umfeld schrittweise aus der Krise zu kommen, ohne unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf der Strecke zu lassen.Auf diese Weise schaffen wir erneut Vertrauen, alle zusammen.


[1] EMS Editions “Question(s) de management”, 2021/4, no. 34, pages 97 to 171, ISSN 2262-7030

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