Geteilte Macht und Entscheidfindung

Seit jeher propagieren Unternehmen, private und öffentliche Institute und Gesellschaften innovative Organisationsformen, um die Macht besser zu verteilen, agiler zu werden, Hierarchien zu verflachen oder sie gar zum Verschwinden zu bringen. Dieser Trend war besonders seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zu beobachten und hat sich in den letzten Jahren verstärkt.

Die Macht teilen zu wollen, ist eine noble Sache, impliziert aber vermehrtes Übernehmen von Verantwortung. Die Engländer verwenden hier den treffenden Begriff «accountability». Das Übernehmen von Verantwortung setzt seinerseits voraus, dass man die Folgen seines Tuns zu tragen vermag.

Die Entscheidfindung ist einer der entscheidenden Hebel im Zusammenhang mit dem Teilen von Macht. Damit es überhaupt gelingen kann, sind drei Faktoren zu berücksichtigen, und auf alle drei ist Einfluss zu nehmen:

  • Die Autonomie der beteiligten Personen 
  • Die verfügbaren persönlichen Ressourcen 
  • Die vorhandene Unternehmenskultur

Lesen Sie zum Begriff «Macht» den Beitrag «Leadership: Legitime Macht» (https://www.lp3leadership.com/site/de/leadership-legitime-macht/). 

Macht mag aufgrund dessen, was wir lesen und wahrnehmen, negative Assoziationen hervorrufen, ist aber grundsätzlich neutral. «Macht» ist der abstrakte Begriff zu «etwas zu tun vermögen; die Kompetenz haben, etwas zu tun». Was positiv oder negativ sein kann, ist der Machteinsatz, die Nutzung der Machtquellen, das Verwenden dessen, was Macht gibt. So kann ich mit Geld als klassischer Machtquelle Waffen kaufen oder eine Spende tätigen.

Nun zum Übernehmen von Verantwortung, das uns bisweilen aus unserer Komfortzone hinausdrängt. Lesen Sie dazu den Beitrag «Arbeitsmarktfähigkeit, Komfortzone und bewusstes Atmen» (https://www.lp3leadership.com/site/de/arbeitsmarktfaehigkeit-komfortzone-und-bewusstes-atmen/). 

Je nach den vorhandenen Ressourcen und den bevorstehenden Herausforderungen verlassen wir unsere Komfortzone beherzter oder zurückhaltender und gehen mehr oder weniger Risiken ein. Zum Thema Mut vermittelt Ihnen der Beitrag «Management: Wie lässt sich eine mutige Haltung fördern?» (https://www.lp3leadership.com/site/de/management-wie-laesst-sich-eine-mutige-haltung-foerdern/) Ansätze dafür, wie Sie Ihre Freunde, Kinder, Angestellten und Kollegen dazu bringen können, ihre Ängste zu überwinden und mutiger zu sein.

Grundsätzlich ist es nicht zulässig, jemandem «sei mutiger!» zu sagen. Denn der Mut hängt mit den Ängsten der angesprochenen Person zusammen. Insofern wir nicht alle Ängste der andern kennen, haben wir gar nicht das Recht, mehr Mut von ihnen zu verlangen. Wir können hingegen die Hebel betätigten, die der eben erwähnte Artikel beschreibt.

Die Hebel, die Sie einsetzen, entwickeln und verstärken können, sind:

  1. Die persönlichen Ressourcen Ihres Gegenübers, die Sie wertschätzen und fördern (trainieren, coachen …) können.
  2. Die positiven Erfahrungen, die Sie ermöglichen, etwa indem Sie eine Aufgabe delegieren, die Ihr Gegenüber erfolgreich erledigt.
  3. Die «Naivität» Ihres Gegenübers, dem Sie den Rücken stärken und das Sie bei einem allfälligen Fehler nicht herunterkanzeln. Obschon Ihr Gegenüber nicht alle Risiken erfasst, also eben eine quasi kindliche Naivität an den Tag legt, wird es den Mut haben, aktiv zu werden, den Versuch zu wagen, weil es weiss, dass es aus seinen Fehlern lernen darf und nicht dafür gerügt wird. Lesen Sie zu diesem Thema den Beitrag «Irrtum erlaubt, fahrlässige Fehler nicht» (https://www.lp3leadership.com/site/de/irrtum-erlaubt-fahrlaessige-fehler-nicht/).

Doch nun zu unserem Schlüsselbegriff, der Entscheidfindung als wichtigstem Hebel zum Teilen der Macht. Hier geht es in erster Linie um ein Problem der Unternehmenskultur. Wie oft habe ich nicht Unternehmen gesehen, die sich um agilere Ansätze bemühten, die Macht verteilen wollten und allerlei Tools und Vorgehensweisen implementierten, letztlich aber an einem Problem scheiterten, nämlich ihrer Unternehmenskultur: «Darf ich entscheiden?» «Sind wir konsequent genug oder machen wir eine Alibiübung?»

Wie ich im Beitrag «Holacracy & Co.: eine Frage von Autonomie, Teams, Zusammenarbeit und vor allem Leadership» (https://www.lp3leadership.com/site/de/holacracy-co-eine-frage-von-autonomie-teams-zusammenarbeit-und-vor-allem-leadership/) aufzeige, sind nicht alle Unternehmen oder Organisationen in der Lage, solche Systeme einzuführen. Nicht alle vermögen Entscheide zu treffen und deren Folgen zu tragen. Manchen fehlt das Format, um mit den Konsequenzen ihres Tuns zu leben. 

Deshalb braucht es klare und dem Unternehmen oder der Organisation angepasste Entscheidungsstrukturen, die niemanden ins Abseits manövrieren.

Drei Ebenen oder Arten von Entscheidfindung sind in Betracht zu ziehen: 

  • Entscheid durch Konsens
  • Entscheid durch Konsent 
  • Autonom gefällter Entscheid

Der Entscheid durch Konsens erfordert, dass alle anwesenden oder beteiligten Personen einverstanden sind. Dieses Vorgehen braucht viel Zeit und Ressourcen und führt zu mutlosen, oft dem Status quo nahen und wenig begeisternden Lösungen. Solche Entscheide gilt es zu vermeiden.

Der Entscheid durch Konsent kommt bei neuen Ansätzen wie Holacracy oder Soziokratie hauptsächlich zur Anwendung. Ein sachdienliches Vorgehen, sofern es zielsicher umgesetzt wird. Dabei stellt eine Person einen Entscheid, ein Projekt oder ein Vorgehen zur Debatte. Hat niemand einen berechtigten Einwand, gilt der Entscheid, das Projekt oder das Vorgehen als akzeptiert. Der Schlüssel zur Funktionsfähigkeit des Ansatzes ist, genau zu klären, was als berechtigter Einwand gilt und auf welche Grundlage (Vision, Auftrag, Werte, Verhaltensregeln, Führungsprinzipien) man sich beruft. Wichtig ist also, die Debatten zu strukturieren und anzuleiten.

Was wird unter berechtigtem Einwand verstanden?

Ein Einwand ist berechtigt, wenn der Entscheid, das Projekt oder das Vorgehen:

  • explizit dem Auftrag (Daseinsberechtigung), der Vision oder den Werten widerspricht; wenn also etwa eine Firma, die Mikromotoren herstellt, sich humanistisch gibt und einen Waffenproduzenten beliefern will.
  • eines oder mehrere identifizierbare grössere Risiken nach sich zieht, die dem Ruf schaden, einen Konkurrenzvorteil zunichtemachen oder den Markteintritt eines Schlüsselprodukts signifikant verzögern würden. 
  • eine oder mehrere direkte Folgen hat, also etwa das Erreichen eines Schlüsselziels verhindern, einen hohen Kostenanstieg verursachen oder Entlassungen bedingen würden.
  • in Ergänzung zum vorhergehenden Punkt nachweislich unwiederbringliche (nicht etwa prognostizierte) Folgen hätte. Beispiel: Wird der fragliche Entscheid gefällt, hat ein Konkurrent faktisch das Recht zum Erwerb einer Produktionslizenz, was die eigene Firma stark belasten würde.
  • direkt den Spielraum einer der anwesenden Personen bzw. die Zielerreichung, die Produkte- und Dienstleistungsqualität einer oder mehrerer anwesender oder betroffener Personen einschränkt.
  • eine oder mehrere anwesende Personen zu einem tief greifenden Rückzug veranlasst, etwa weil das Vorgehen ihren persönlichen Werten widerspricht.

Wird ein berechtigter Einwand vorgebracht, ist er zu diskutieren und einzubeziehen, damit sich ein Weg finden lässt, um den Vorschlag, das Projekt, den Entscheid oder das Vorgehen zu ergänzen oder anzupassen. Allenfalls wird der Vorschlag zurückgewiesen oder muss überarbeitet und erneut vorgebracht werden.

Sogar wenn all dies nach den Regel der Kunst erfolgt, bleibt ein Problem bestehen: Wird ein Entscheid im Konsentverfahren gefällt/validiert und stellt er sich später als Fehlentscheid heraus, ist es ausgesprochen schwierig, darauf zurückzukommen, ihn abzuändern, ein Projekt abzublasen oder das Vorgehen zu stoppen. Weil die anwesenden Personen Zeit und Ressourcen investiert haben, fällt es ihnen nämlich schwer, den Fehlschlag einzuräumen. 

Deshalb bleibt die dritte Form der Entscheidfindung, also der autonom gefällte Entscheid, die effizienteste und schlagkräftigste Variante.
Wichtig ist, den Spielraum klar zu definieren und den Beteiligten die notwendigen Ressourcen und die erforderliche Unterstützung zukommen zu lassen, damit sie selbst ohne komplexe und kostentreibende Umwege Entscheide fällen können. Es gibt nichts Besseres, um an Schnelligkeit und Flexibilität zu gewinnen.

Hat jemand das Recht, Entscheide zu fällen, einem Irrtum zu unterliegen, von seinen Fehlern zu lernen und daran zu wachsen, wird diese Person umso leichter und schneller entscheiden; irrt sie sich, kann sie einfacher auf ihren Entscheid zurückkommen, ihn modifizieren und an Agilität gewinnen.

Fazit: versetzen wir möglichst viele Leute in die Lage, Entscheide zu fällen, indem wir ihre Autonomie fördern, ihnen die nötigen Ressourcen zur Verfügung stellen und ihnen den Rücken freihalten (psychologische Sicherheit). Dazu braucht es eine lernende Unternehmenskultur mit zwei Lernschlaufen. Macht jemand einen Fehler, analysiert er ihn und zieht seine Lehre daraus (1. Schlaufe) und ermöglicht es den andern in der Organisation oder Institution, sich die Erfahrung zunutze zu machen (2. Schlaufe).

Auf eine erfolgreiche Entscheidfindung!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert