Um ihr Überleben in einer konstant sich ändernden Welt (BANI[1]) abzusichern, wünschen mehr und mehr Unternehmen Strukturen und Organisationsformen, die es ermöglichen, Macht und Verantwortung «besser» zu verteilen, um mehr Autonomie zuzulassen und damit eine höhere Agilität und Geschwindigkeit zu erreichen. Und zwar so, dass man Herausforderungen schneller zu begegnen vermag. Man spricht hier etwa von Liberated Company (einem befreiten Unternehmen), Soziokratie oder Holacracy.
Allerdings werfen gemachte Erfahrungen sowie laufende Prozesse mehrere Kritikpunkte auf. Verschiedene Unternehmen, die auf solche Systeme setzen, sind denn auch für Unterstützung und Begleitung einzelner ihrer Schritte an mich gelangt.
Zehn kritische Punkte, die ich beobachten konnte
- Reifegrad
Die neuen Ansätze erfordern Zeit und lassen sich nicht von heute auf morgen umsetzen. Sie brauchen einen Vorlauf und bilden einen Weg, den es zu gehen gilt. Für diesen Weg braucht es einen Anführer, einen Hebel, aber auch Leadership. Die Reife eines Unternehmens hängt von seiner Vision ab, einer klaren, bekannten und geteilten Vision. Das Unternehmen muss Werte festgelegt haben, die zu dieser Vision passen. Diese Werte kommen in klar beobachtbaren Verhaltens- und Führungsgrundsätzen zum Ausdruck. Die errichteten Strukturen, Prozesse und Werkzeuge sind daran angepasst und berücksichtigen sie. Damit sind Kohärenz und Kongruenz sichergestellt. Und ein klarer Rahmen ist gegeben, in dem sich die Mitarbeitenden in grösserer Autonomie entfalten können. Diese Reife geht Hand in Hand mit dem Vorbild der Führungskräfte und Kaderleute. Sie leben vor, was sie sagen, sie sind integer. Dies ist der wichtigste Hebel zum Implementieren einer neuen Kultur. - Autonomie des Einzelnen
Macht teilen und beim Entscheidungsprozess einen grösseren Spielraum lassen zu wollen, ist eine noble Sache. Allerdings hat nicht jede und jeder den Willen und die Fähigkeiten, die es braucht, um Entscheide zu fällen. Nicht alle Angestellten eines Unternehmens sind genügend autonom und haben genügend breite Schultern, um die Folgen ihrer Entscheide zu tragen. - Leadership
Ist Ihnen schon aufgefallen, dass Unternehmen oder Organisationen, die neue Organisationsformen einführen, dies jeweils in Aufschwungphasen tun? Kriselt es hingegen, lassen sie sich nicht darauf ein. Denn in einer Krise ist vor allem Leadership gefragt. Chefinnen und Chefs brauchen wir vielleicht bald nicht mehr, Leader hingegen schon. Wobei nicht zwingend der CEO eines Unternehmens den Lead haben muss. Je nach Situation kann sich jeder und jede als Leader entpuppen. - Zusammenarbeit
Auch wenn in bestimmten Unternehmen die «Funktionen» zugunsten von «Rollen» verschwinden, bleiben die Individuen – Menschen mit ihren Emotionen, ihren Ängsten, ihren Vorlieben, ihrer Einzigartigkeit, ihren Interpretationen und ihren Erwartungen.
In einer Epoche, in der die Digitalisierung in aller Munde ist, behaupte ich zwei Dinge:
– Erstens, dass niemand weiss, was «Digitalisierung» für sein Unternehmen oder die eigene Organisation wirklich bedeutet, und zwar auf allen Ebenen. Ich habe verschiedentlich Workshops begleitet, mit den Chefetagen von Grossbetrieben, aber auch mit KMU – und niemand konnte mir sagen, worauf die Digitalisierung denn nun eigentlich hinausläuft.
– Zweitens, dass künftig nur Unternehmen, die auf die Zusammenarbeit innerhalb und unter den Teams setzen, mit Erfolg rechnen können. Die Kraft, die sich so schaffen lässt, der Zusammenhalt, die gegenseitige Unterstützung, das Vertrauen – all dies erlaubt es im entscheidenden Moment, die sich stellenden Probleme zu lösen. Zusammenarbeit und Zusammengehörigkeitsgefühl fördern und stärken die individuelle Resilienz, aber auch jene der Gesamtorganisation. - Verantwortung übernehmen
Ist das System nicht kohärent und vor allem nicht konsequent, zeigt sich bei der Umsetzung, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht etwa mehr Verantwortung übernehmen, sondern im Gegenteil Tendenz haben, sich vor Verantwortung zu drücken und darauf zu verweisen, dies oder jenes gehöre nicht zu ihrem Bereich. - Spannungen
Das Prinzip des Behandelns von «Spannungen» bei Ansätzen wie etwa der Holacracy ist grundsätzlich ausgezeichnet. Leider wird damit aber manchmal übers Ziel hinausgeschossen. Alles und jedes kann zur «Spannung» deklariert werden, die beteiligten Personen versuchen erst gar nicht mehr, Spannungen auch als Alltagsphänomen zu verstehen, Probleme bilateral zu lösen oder hin und wieder fünfe gerade sein zu lassen. Dieses Übertreiben vergiftet die Steuerungstreffen, so dass viel wertvolle Zeit verlorengeht. - Begleitung
Das Umsetzen neuer Ansätze wird oft minutiös von spezialisierten externen Anbietern begleitet, zumindest am Anfang. Mir ist aufgefallen, dass das Hauptproblem bei der mittel- und langfristigen Begleitung liegt. Denn die Schwierigkeiten tauchen oft erst nach einer gewissen Zeit auf, und genau dann braucht es Begleitung. Wesentlich ist zudem, eine gemeinsame Sprache zu finden sowie ein gemeinsames Verständnis und klare, vorgelebte und geteilte Führungsprinzipien zu entwickeln. In der Begleitung braucht es deshalb ein Leadership-Programm. - Einfache Sprache
Wie Sie wissen, ist abgesehen vom gemeinsamen Verständnis und der gemeinsamen Sprache ein einfacher Ansatz, der mit verständlichen Wörtern auskommt, das A und O des Erfolgs. Hier setze ich die grössten Fragezeichen an die Adresse neuer Organisationsformen und insbesondere an die Holacracy mit ihrem vielzitierten Regelwerk: Dutzende Seiten mit einer für die meisten Leute neuen Terminologie, die die Dinge komplizierter macht, als sie sind. Halten wir uns also an einfache Wörter. - Interne Kohärenz
Am Beispiel der Holacracy, ihrer Rollen und deren Zwecke stelle ich fest, dass oft Standardformulierungen verwendet werden, darunter auch Copy-Paste-Beispiele oder gar von Aussenstehenden vorgekäute Formulierungen.
Um interne Kohärenz zu gewährleisten, muss jedes Team, jeder Kreis, jede Rolle oder Entität innerhalb des Unternehmens oder der Organisation den eigenen Zweck aufgrund von Auftrag und Unternehmensvision selbst formulieren. Die Frage, die es zu stellen gilt, ist: «Welchen Beitrag liefere ich bzw. liefern wir?» Ausgehend von der Antwort auf diese Frage können Sie Ihren Puzzleteil formulieren.
- Konsequent sein
Zu guter Letzt das vielleicht Wichtigste: Die Unternehmen müssen sich zum mehr Konsequenz durchringen; hier liegt wohl der Hund begraben. Nicht zu viel tun, nicht zu viel umsetzen, sondern vielmehr konsequent sein mit dem, was man einbringt, und sehr viel Disziplin an den Tag legen. So erreicht man mit einem bescheidenen Einsatz eine hohe Wirkung, wird schneller und gewinnt sowohl Vertrauen als auch eine positive Dynamik im Unternehmen.
Um die aktuellen Schwierigkeiten zu überwinden, muss man einen Leadership-Ansatz verfolgen, aus den neuen Organisationsformen bestimmte Elemente herauspicken und sie überlegt und sie einfach und überlegt umsetzen. Ich für meinen Teil liess mich von der Natur inspirieren und habe die erwähnten Elemente mit einem Tier in Verbindung gebracht, das mich in den vergangenen Jahren sehr stark inspiriert hat. Das Tier, das mich fasziniert, ist der Tintenfisch oder Oktopus.
Oktopus
Als Meerwesen hat der Oktopus Eigenschaften und Verhaltensweisen, die interessante Parallelen zu Agilitätskonzepten und den Kompetenzen aufweisen, die es zur Transformation eines Unternehmens in einer Welt in konstanter Entwicklung braucht. Hier einige dieser Parallelen:
- Anpassungsfähigkeit: Oktopoden sind für ihre enorme Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Meeresumgebungen bekannt.
- Flexibilität: Oktopoden haben geschmeidige, wendige Arme, mit denen sie sich fortbewegen und agil an verschiedenste Situationen anpassen können.
- Kontinuierliches Lernen: Oktopoden sind intelligente und neugierige Wesen, die ständig von ihrer Umwelt lernen.
- Problemlösung: Oktopoden vermögen unter Einsatz ihrer Intelligenz und ihrer Agilität komplexe Aufgaben zu lösen.
- Tarnung und Agilität: Oktopoden können Farbe und Beschaffenheit ihrer Haut rasch verändern, um mit ihrer Umgebung zu verschmelzen und Raubfischen zu entwischen.
- Zusammenarbeit und Kommunikation: Oktopoden verwenden ihre Tentakel, um untereinander und mit ihrer Umwelt zu kommunizieren.
- Risikomanagement und Leadership: Oktopoden können sich zu ihrem Schutz unvermittelt in ihr Versteck zurückziehen. Wenn sie fliehen müssen, pfeilt der Kopf davon und die Arme folgen nach.
- Resilienz: Oktopoden können einen Arm nachwachsen lassen, wenn er abgetrennt wurde.
Kurz, die Analogie zum Oktopus zeigt, wie wichtig Anpassungsfähigkeit, Flexibilität, kontinuierliches Lernen, Problemlösung und Zusammenarbeit in einer sich konstant weiterentwickelnden Welt sind. Unternehmen, die diese Kompetenzen und Verhaltensweisen pflegen, werden unter ständig wechselnden Bedingungen bessere Chancen haben, sich zu entfalten und erfolgreich zu sein.
Ein kurzer Blick auf die Neuronen
Wenden wir uns noch rasch dem Nervenkostüm des Oktopus zu: Die Neuronen sind gleichmässig über seinen ganzen Körper verteilt. Jeder Arm hat seine Autonomie. Damit ist der Oktopus quasi das Abbild der in den neuen Organisationsformen gewünschten Machtverteilung. Der Oktopus hat kein Skelett (rigide Struktur) und ist deshalb besonders agil und anpassungsfähig.
Die Neuronen sind noch aus einem anderen Grund interessant: Sie sind gleichzeitig sehr sparsam und ganz konsequent. Grundsätzlich setzen sie nur gerade die nötige Menge Energie um. Müssen sie eine neue Verbindung herstellen, tun sie das, indem sie die nicht mehr benötigten abbauen.
In unseren Organisationen, Institutionen und Unternehmen müssen wir lernen, ebenso konsequent zu sein, nicht mit allzu vielen Projekten und Initiativen gleichzeitig zu jonglieren und die Energie, unsere Energie, gezielt und sparsam einzusetzen.
[1] Das Kurzwort BANI aus B für brittle (brüchig), A für anxious (besorgt), N für nichtlinear und I für incomprehensible (unverständlich) ist als Weiterentwicklung des Kurzworts VUCA (volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig) zu verstehen und betont aufgrund aktueller Entwicklungen charakteristische Merkmale unserer Lebenswelt.